Der Platz (Berlin-Wilmersdorf, 1970)

 

 
Foto: © Privat, johannnes stephan wrobel, freilassing/obb.

 

Lebensrealitäten

 DER PLATZ

(Berlin 33, den 17. Februar 1970)
 

 DA IST EIN SCHÖNER PLATZ IN BERLIN.
– ER IST SEHR STOLZ.

DENN AUF IHM STEHEN WUNDERSCHÖNE PAPPELN,
UND IN DER MITTE LIEGT EIN GRÜNER RASEN,
DER IM SOMMER BLÜHT.
WENN VIELE LEUTE KOMMEN UND IHN BEWUNDERN,
DANN STRAHLT ER UND FÜHLT SICH GANZ GEHOBEN.

ABER DIE GROSSEN PAPPELN MACHEN SICH WIRKLICH
GUT AUF DEM RUNDEN PLATZ.
– ER IST SEHR EINGEBILDET.

WENN ES HOCH OBEN IN DEN KRONEN RAUSCHT, DANN
BLEIBEN DIE LEUTE STEHEN.
DIE PARKBÄNKE SIND IMMER GUT BESETZT, DOCH
WENN KINDER AUF DEM GEPFLEGTEN RASEN GEHEN,
DAS SIEHT ER GARNICHT GERN.

DAS MUSS MAN ANERKENNEN,
ER IST ERHABEN ÜBER ALLEN PLÄTZEN DER UMGEBUNG.
– JA, DIE SCHÖNEN PAPPELN.

WEISST DU, DASS SIE GESTERN VERMESSEN KAMEN?

DIE AUTOBAHN SOLL ÜBER DEN PLATZ.
– UND DER PLATZ?

ER WAR SEHR STOLZ.
VIELE LEUTE KAMEN
UND DIE PAPPELN WAREN HOCH UND MAJESTÄTISCH.

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Der Blick aus unserem Kinderzimmer in Berlin-Wilmersdorf ging hinaus auf den Breitenbachplatz (Foto), damals mit prächtigen Pappeln umsäumt – bis sie für die Stadtautobahn geopfert wurden. Das empfand ich als Verlust, wobei mir die Vergänglichkeit alles Seins (auch des Gewohnten) bewusst wurde, und was mir etwas vor Augen führte: Die Notwendigkeit von Bescheidenheit (was bedeutet, sich seiner Grenzen bewusst zu sein) und Demut (ohne Stolz, Sanftmut, sich Herabbeugen [d.h. bei Menschen das Niedriggesinntsein; vgl. die Demut Gottes laut Psalm 18,35, der sich gewissermaßen zu Menschen herabneigt], was eine Stärke ist). Mir kam außerdem eine bekannte Pop-Melodie in den Sinn, die ich aus dem Radio kannte: "Mein Freund der Baum | Ist tot | Er fiel im frühen Morgenrot" (1968, YouTube) von Alexandra. Noch ein anderer ihrer Verse begleitet mich: "Illusionen blüh'n im Sommerwind, treiben Blüten, die so schön, doch so vergänglich sind" (Quelle). Die Schlagersängerin selbst kam tragischerweise bei einem Autounfall einige Monate zuvor, im Juli 1969, ums Leben. (Sie ist unter ihrem Künstlernamen auf dem Westfriedhof in München begraben). Damals war für mich der Tod noch kein Thema, das mich berührte, sondern eher der Verlust durch Weggang oder Abschied.

 © 1970 johannes stephan wrobel - stephan castellio

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Der rote Tod (West-Berlin, 1968)

Heute kann ich nur vermuten, daß dieses Gedicht aus meiner Teenagerzeit ideologisch bedingt ist. Während ich mit meinen Eltern und Geschwistern im freiheitlichen West-Berlin lebte, wohnte meine Großmutter im kommunistischen Teil der Stadt, in Ost-Berlin. "Der rote Tod" dürfte über die gefährliche sozialistische Ideologie, die an der Zonengrenze Menschenleben forderte und Andersdenkende in der DDR ins Gefängnis brachte, hinausgehen und die Sowjetunion und ihre Gulags einschließen – das Wissen um die Aussichtslosigkeit eines heroischen Kampfes gegen die rote Ideologie, das unfreiheitliche System und ihre Vollstrecker, dennoch folgten Menschen ihrem Gewissen und gingen dafür in den Tod.

 

"Aus meiner Phantasie"

 Der rote Tod

(West-Berlin, 26. November 1968)

 IM Feuer des nächtlichen Brand'
flackern die Steine der nördlichen Wand.
Die feurige Glut kracht und zischt –
die Glocken brausen zu der späten Stund'
– das Feuer fließt und glüht wie Blut.
Die dunkle Botschaft geht von Mund zu Mund.

IM Feuer des nächtlichen Brand'
flackern die Steine der nördlichen Wand.
Bleiche Gesichter durchzuckt Angst.
Schreie durchfahren das nächtliche Licht.
Die Männer raffen Weib und Kind,
für's nackte Leben, in brennender Not,
zu entkommen dem roten Tod.
Das Dorf, in Angst und Schrecken eilt es fort,
läßt zurück den tobenden Ort.

 IM Feuer des nächtlichen Brand'
glühen die Steine der nördlichen Wand.
Nur zehn Männer hasten zur Stell',
mutige Leute und Bauerngeschlecht;
sie alle führen die Beile
und schlagen nicht schlecht. Sie kennen die Not,
haben Weib und viele Kinder,
und so fürchten sie das Grab und den Tod.
Doch der Rote hielt wüste Wacht,
schonte weder die Häuser noch die Kuh
– er will siegen in dieser Schlacht.
Frißt und frißt und frißt – Stuhl und Tisch und Schuh.
Da – im Flackern des Herdes bricht
krachend und splitternd das glühende Dach.
Der Rote knistert und er lacht –
schrecklich sprühen die Funken in die Nacht –
frißt weiter und hält seine Macht.

IM Feuer des nächtlichen Brand'
spucken die Steine der nördlichen Wand.
Die Männer sind wie Rasende.
Es geht von Hand zu Hand. Sie geben Trotz
dem Würger – nah' der Feuerwand.
Sie sehen in den beißenden Rachen.
– Da hebt der Hein die graue Hand –
und sie hören, wie die Balken krachen,
"Haltet nur aus. Und kämpft mit Mut.
Männer! Wie kämpfen doch für Hab und Gut."
Das sich're Ende kennt man wohl,
doch sie kämpfen und bleiben in der Glut.
Da knirscht es, wie fernes Grollen,
und mit Getöse stürzt der schwarze Rand
– und mit ihm die glühende Wand. 

IM Scheine des nördlichen Brand'
flüstern die Steine der nördlichen Wand.
Und zehn Mann' liegen im Totengewand.

 © 1968 johannes stephan wrobel 

 

West-Berlin, Herbst 1968 (Aufsatz)

Friedrichstrasse Ost-Berlin

Grenzübergangsstelle

 

Wir gingen durch die Sperre. Entlang wartender Menschen, deren Gesichter Leid und Hoffnung ausdrückten. Sie warteten alle – vielleicht vergebens, doch sie blieben. Die Leute standen in dichter Reihe, warfen fragende Blicke zum Eingang.
 
Die Spannung wuchs. Ein neuer Schwarm war aus der Tür gekommen. Ihre Blicke musterten die ernsten Gesichter hinter der Sperre. So manche Hoffnung der Wartenden erfüllte sich; unter Tränen wurde die Freude geteilt. Doch wie viele wurden auch heute wieder enttäuscht
 
Die Halle war kalt und unsympathisch. Die Stimmung war bedrückt, traurig und hoffend zugleich. Eine Frau kam aus der dichten Reihe der Wartenden. Trat auf mich zu. “Kommt ihr von drüben?” Ich sah in ihre verweinten Augen. “Ja”, antwortete ich. Wir gingen weiter. 
 
Wir passierten den Augang und standen endlich auf der Straße. 
 
Mit einem Taxi fuhren wir durch den spärlichen Verkehr. Ich schaute durch das Fenster. Die Straße schien eher einsam als belebt. Erst auf Geschäftsstraßen sahen wir Menschengruppen. Immer wieder dieses traurige Bild. Die Seitenstraßen waren beinahe ganz ausgestorben.
 
Hier und da spielten Kinder. Die großen, grauen Fasaden der Häuser machten einen toten Eindruck. 
 
Doch hier, zwischen den dunklen Häusern, mit ihren düsteren Hauseingängen, ist ihr Spielplatz. Und in einigen hundert Metern ist Stacheldraht! 
 
Ein Junge spielt mit seinem Ball, und der Ball hüpft auf dem kalten Straßenpflaster.
  

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Durch den Bau der Berliner Mauer (13. August 1961) konnten meine Eltern und Geschwister, die wir im demokratischen West-Berlin wohnten, unsere Großmutter im Ostteil der Stadt, der “Hauptstadt” der sozialistischen DDR, zunächst nicht mehr besuchen. Bis es Passierscheine zum Jahresende 1963 für den Verwandtenbesuch in Ost-Berlin gab, also nach 28 Monaten. (Es folgten drei weitere Passierscheinabkommen für 1964, 1965 und 1966.) Dann durften wir mit etwas Gepäck, kleinen Geschenken für die Oma, die Grenze passieren. Die Grenzübergangsstelle war im Bahnhof Friedrichstraße. Hier mussten wir in einer Halle warten, wurden abgefertigt, unser Gepäck untersucht, durften dann passieren. 

In der Halle standen Ost-Berliner, die auf den Besuch ihrer Verwandten aus dem Westen warteten oder hofften. Wir fuhren mit einem Taxi von der Friedrichstraße in die Czarnikauer Straße, wo meine Großmutter wohnte. Die Straße lag nahe der Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin an der Brücke Bornholmer Straße. Mein Erinnerungsbericht bezieht sich auf den ersten oder auf einen der nachfolgenden Besuch mit Passierschein in Ost-Berlin. Leider ist mir nicht erinnerlich, wofür ich den Text niederschrieb, ob es zum Beispiel für eine Hausarbeit in der Schule war – eher nicht. Den Text hatte ich damals nicht wie sonst in Handschrift hinterlassen, sondern in Maschinenschrift, sicherlich wegen des besseren formalen Eindrucks. Auch wenn der Text keinen Hinweis auf meine Absicht des Schreibens enthält (das Bedürfnis, Gefühle durch Schreiben auszudrücken statt verbal hatte ich bereits früh verspührt), folgte ich doch sehr wahrscheinlich erstmals dem inneren Drang, eine bleibende Erinnerung zu schaffen – denn "Was man schreibt, das bleibt!" sollte später und bis heute mein Motto sein.

 © 1968 johannes stephan wrobel - stephan castellio

        

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